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Hochschulausbildung meist überbewertet

Demontage der dualen ­Berufsausbildung

Während die Euro-Krise zu Recht in aller Munde ist, wird eine andere Krise, die nicht weniger den Wohlstand in Deutschland gefährdet, in der Öffentlichkeit erst allmählich wahrgenommen. Es geht um die schleichende Aushöhlung des dualen Berufsbildungssystems (kurz duales System oder Betriebslehre), dessen Wurzeln bis in die Zunftausbildung seit dem Mittelalter zurückreichen. Die Bedeutung des dualen Systems für den Wohlstand und auch für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen wird traditionell sträflich unterschätzt, obschon Facharbeiter, Handwerker, Kaufleute und andere dual Ausgebildete mehr zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung beitragen als das akademische System.

Dennoch wird der sich zuspitzende Fachkräftemangel noch nicht angemessen wahrgenommen. Die Kombination aus praktischer Lehre im Betrieb und Theorielernen in der Berufsschule stellt einen besonders effektiven Bildungsweg auf der Basis des Ernstlernens am Arbeitsplatz dar. Er ist der Königsweg zur Persönlichkeitsentwicklung für junge Menschen, die nicht an Hochschulen studieren wollen oder können. Das Nicht-Können geht nur bei einer Minderheit auf eine generell schwache Begabung zurück, meistens liegen nicht minderwertige, sondern schlicht andere Begabungsprofile vor, wie sie typischerweise etwa an Arbeitsplätzen im Handwerk verlangt werden.

Was für Hochschulen die Studierreife, ist für die Betriebslehre die Ausbildungsreife. Hier wie dort gibt es erschreckende Defizite, wie an den hohen Abbrecherquoten abzulesen ist. Diese Defizite verursachen kostspielige Umwege und verschärfen die generelle Fehlsteuerung von Qualifikationsströmen. Dabei ist das duale System von seiner Anlage weit besser gerüstet, die Defizite aufzufangen. Denn es ist vertikal und horizontal so differenziert ausgebaut, dass vom Schwerlerner bis zum Abiturienten für alle passende Ausbildungswege angeboten werden.

Hochschulstudium erscheint zu Unrecht als besserer Weg

Woran liegt es, dass immer mehr junge Menschen den Hochschulweg bevorzugen, obwohl für einen Großteil unter ihnen die Betriebslehre angemessener und lebenserfüllender wäre? Neben dem Imagenachteil sind vor allem folgende Gründe dafür maßgebend:

  • Die Politik hat, angetrieben von den jährlichen Mahnstatistiken der OECD (Paris), über Jahrzehnte den akademischen Weg als bevorzugtes Heilmittel für den globalen Wettbewerb propagiert. Deutschland ging der OECD auf den Leim und finanziert jeden Studenten um ein Vielfaches höher als einen Berufsschüler. Nach wie vor rangiert Hochschulförderung weit vor der Förderung des dualen Berufsbildungssystems. Die Folge: Bald gibt es mehr Studenten als Lehrlinge, was insbesondere die Mittelstandsbetriebe als Hauptträger der Wirtschaft hart trifft. Während die Hörsäle an Universitäten übervoll sind, suchen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) händeringend qualifizierungsfähige Nachwuchskräfte zu Zehntausenden. Die Lage wird sich durch den demografischen Wandel von Jahr zu Jahr verschärfen.
  • Die meisten Bildungspolitiker sind Akademiker und kennen das duale System nicht aus eigener Erfahrung. Sie betrachten es als bloßes Auffangbecken für Nichtstudierfähige.
  • Die enorme Vielfalt des dualen Systems erschwert den Durchblick. Geht man von etwa dreitausend Vollberufen aus, für deren Mehrheit kein Hochschulabschluss erforderlich ist, so hat sich, um diese Berufsvielfalt pädagogisch zu bedienen, ein extrem differenziertes Ausbildungssystem herausgebildet, das vom Berufsvorbereitungsjahr (für Hauptschulabgänger aus 7. und 8. Klassen) über Berufsfachschulen, Fachoberschulen bis zu den fachhochschulnahen Berufsakademien reicht. Für jeden der über dreihundert Ausbildungsberufe hat die Bundesregierung ­eine Ausbildungsordnung erlassen, deren Einhaltung von den Kammern (des Handwerks, der Industrie und des Handels u.a.) überwacht wird. Was für die Universitäten das Hochschulrahmengesetz, ist für die Ausbildungsbetriebe (darunter auch Behörden, Krankenhäuser usw.) das Berufsbildungsgesetz. Hinzu kommen weitere gesetzliche Bestimmungen, z.B. die Handwerksordnung. Nur im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften dürfen Betriebe ausbilden, deren Eignung von den Kammern festgestellt wird. Alle Versuche, die komplizierte Struktur des dualen Systems zu vereinfachen, scheitern an der differenzierten Nachfragestruktur der Betriebe. Was intern die große Stärke ist, die Anschlüssigkeit an die konkrete Berufswelt, ist extern eine Schwäche. Eltern, Lehrer und Jugendliche stehen bei der Berufswahl meist verwirrt vor dieser Angebotsvielfalt.
  • Als ob das alles nicht schon schwierig genug wäre, verkomplizieren weitere Systemteile das duale System, etwa die überbetrieblichen Ausbildungsstätten, welche die unterschiedlichen Lernniveaus in den Betrieben ausgleichen. Der Besuch aller drei Lernorte ist Pflicht, sobald ein Lehrvertrag abgeschlossen wurde.

Duales System bietet stabile Existenzgrundlage

Die Intransparenz ist der Preis für die hohe wirtschaftliche Effektivität und gesellschaftliche Integrationsleistung. Dafür gibt es eindrucksvolle Belege: Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Ländern mit dualer Ausbildung (neben Deutschland auch Österreich und die Schweiz) bedeutend niedriger als in Ländern ohne die Betriebslehre. In Deutschland waren 2012 nur 7,6 % der jungen Menschen zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr arbeitslos, in Spanien 56,4 % , in Portugal 42,5 % , in Italien 40,5 % , in Frankreich 25,5 % , in Belgien 22,4 % und in Großbritannien 20,2 % .

Das deutsche duale System saugt Schwerlerner, Behinderte und Abiturienten gleichermaßen auf und bietet ihnen spezielle Ausbildungsprogramme und eine stabile Existenzgrundlage. Irland muss 2,8 % seines Bruttoinlandsprodukts für die staatliche Unterstützung seiner arbeitslosen Jugendlichen ausgeben, Italien 2,1 % und Frankreich immerhin noch 1,1 % , Deutschland aber nur 0,6 % . Für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist eine Betriebslehre das beste Integrationsangebot. Denn an Arbeitsplätzen werden neben fachlichen Qualifikationen auch soziale und kommunikative Kompetenzen nachhaltig eingeübt.

Trotz aller interner Mängel, die das duale System infolge seiner komplexen Struktur naturgemäß aufzuweisen hat und auf die hier nicht eingegangen werden kann, stellt es doch ein hocheffektives Element im Erfolgsmodell Deutschland dar, das im Ausland zunehmend Interesse findet. Seine Übertragbarkeit halte ich allerdings für sehr begrenzt, weil die wichtigsten Voraussetzungen, wie sie in Deutschland historisch gewachsen sind, nur schwach entwickelt vorliegen oder ganz fehlen: der institutionelle Rahmen (Kammern, Innungen, betriebsverzahnter Berufsschulunterricht), professionelle Betriebsausbilder, dual abgestimmte Curricula, betriebliche Ausbildungsbereitschaften und begleitwissenschaftliche Fundierung.

Das Lernen am Arbeitsplatz ist der Kernmechanismus im dualen System. Seine individuelle, gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ernstlernen unterscheidet sich fundamental von allen Arten schulischen Lernens. Der Lehrling wird in den Arbeitsprozess eingebunden, zur Konzentration und Sorgfalt, zu sozialen und kommunikativen Verhaltensweisen angehalten, wie sie weder in der Familie noch in der Schule gefordert werden. Die Lern- und Verhaltensstruktur unter realen Betriebsbedingungen erzieht zu hohen Ansprüchen (an sich selbst) und steigert mit zunehmender Arbeitssicherheit auch die Motivation – lauter Auswirkungen, deren Bedeutung weit über die individuelle und betriebliche Welt hinausreicht.

Praxisbezug sorgt auch später für Bodenhaftung

Man kann Ernstlernen als ein Schlüsselerlebnis mit starken gesellschaftlichen Auswirkungen betrachten. Denn wer schon als Jugendlicher den Ernst der betrieblichen Prozesse erfahren hat, dessen Weltanschauung bleibt lebenslang realitäts- und praxisnah. Er weiß, was es bedeutet, eine Heizungsanlage zu installieren, im Handel auf Kundenwünsche einzugehen, im Pflegebereich Kranke zu versorgen. Die Wirkungen sind nicht nur an der Arbeitslosenstatistik und am hohen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt, sondern auch am politischen Verhalten abzulesen. Die geplante Erhöhung des Rentenalters zum Beispiel löste in Deutschland nur verhaltenen Unmut aus, im Gegensatz zu Ländern mit bloß beruflichem Anlernen (statt Lehre). Frühe Betriebserfahrungen fördern ökonomische Einsichten und lebenspraktische Mentalitäten.

Deutschland ist dabei, eine seiner wichtigsten Stabilitäts- und Wohlfahrtssäulen zu untergraben. Warum rangiert eine Dachdeckerlehre im Ansehen hinter einer Lehrerausbildung, obschon ein Dachdeckermeister mehr verdient und vermutlich mit der Schulrealität nicht tauschen möchte? Warum verkennen Bildungspolitiker, dass die Überfüllung der Hochschulen viel mit der Vernachlässigung des dualen Systems zu tun hat und manche Milliarde für den weiteren Hoch- schulausbau besser im dualen Berufsbildungssystem angelegt wäre?

Warum hält sich in der Pädagogik seit zweihundert Jahren hartnäckig das Gerücht, Ausbildung hätte mit Bildung nichts zu tun? Ist die Kenntnis der lateinischen Grammatik wirklich höherwertig als die Beherrschung der komplizierten Buchführung? Gewiss, ein Anwalt ist irgendwie auch allgemein gebildeter als ein Facharbeiter. Aber Tausende Anwälte leben vom Einkommen ihrer Frau als Lehrerin, während Installateure und Heizungsbauer gesucht werden.

SBZ Buchtipp

Berufsbildungspolitik

Erich Dauenhauer, Berufsbildungspolitik, 4. Auflage, 384 Seiten, Walthari-Verlag, Postfach 19, 66979 Münchweiler/Rod., 34 Euro

Kein Bildungssystem ist komplexer, aber auch wertschöpfungsstärker als die dual angelegte Betriebslehre. Die Komplexität hat zur Folge, dass das duale System unterschätzt und im Vergleich zum akademischen System benachteiligt wird. Das Buch von Prof. Dr. E. Dauenhauer arbeitet die Strukturlinien des Berufsbildungssystems heraus und stellt sie in den großen Zusammenhang der Ordnungspolitik, Organisationspolitik, Interessenpolitik, Bildungsberatung und Forschung. Der Autor fordert ein Jahresgutachten zur Berufsbildung, um die politisch vernachlässigte Betriebslehre stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen.

Fakten

Praxisbezug bekommen die Auszubildenden sowohl im Betrieb als auch in der Berufsschule, ergänzt um die überbetriebliche Ausbildung.

Die Handwerksausbildung ist für viele junge ­Menschen der Königsweg zur Persönlichkeitsentwicklung. Das manchmal schlechte Image dieser Berufe ist unbegründet.

Standardisierte Bildungspläne für die Berufsschulen sorgen dafür, dass bei der Ausbildung auch die Theorie nicht zu kurz kommt.

Beim Ernstlernen im Betrieb wird der Lehrling in den Arbeitsprozess eingebunden und lernt Konzentration, Sorgfalt sowie soziale und kommunikative Kompetenzen.

Mit der alleinigen Favorisierung der Hochschulausbildung untergräbt Deutschland eine seiner wichtigsten Stabilitäts- und Wohlfahrtssäulen.

Autor

Prof. Dr. E. Dauenhauer war bis 2003 Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspädagogik an der Universität Landau/Pfalz und lehrt dort weiterhin als Emeritus, 66979 Münchweiler/ Rod., dauenhauer@walthari.de, https://walthari.com/